Entgegnungen auf den „Offenen Brief: Antisemitismus! Was tun?"

Wien, am 9. April 2012
Jens Kastner und Tom Waibel

Für eine differenzierte Debatte um antisemitische Argumente in der post- und dekolonialen Theorie!


Eduard Freudmann macht uns, den Übersetzern des Buches „Epistemischer Ungehorsam“ von Walter D. Mignolo (Verlag Turia + Kant, Wien 2012, http://www.turia.at/titel/mignolo.html), in einem offenen Brief vom 5. April 2012 den Vorwurf des „aktiven Verschweigens und Verharmlosens“ von Antisemitismus. Der Vorwurf des Antisemitismus wird mit keinem einzigen Argument untermauert, allein der Text Mignolos „Dispensable and Bare Lives“ (der in dem von uns übersetzten Buch nicht vorkommt), wird als selbstevidenter „Beweis“ für die angeblich antisemitische Haltung des Autors angeführt. Diese vermeintliche Haltung angeblich nicht erwähnt bzw. bloß „fußnotisiert“ zu haben, ist der Vorwurf an uns.

Wir weisen den Vorwurf gegen uns entschieden zurück. Weil wir erstens nichts verschwiegen haben und weil wir zweitens sehr wohl an einer Debatte um Antisemitismus in post- und dekolonialen Theorieansätzen interessiert sind, werden wir im Folgenden kurz Stellung beziehen – trotz des überaus selbstherrlichen und überheblichen Tons, den der „offene Brief“ aus unserer Sicht anschlägt.
Wir haben uns entschieden, ein Buch von Walter D. Mignolo in der Reihe „es kommt darauf an. Texte zur Theorie der politischen Praxis“ zu übersetzen, weil wir viele seiner Ideen und Anregungen zur Notwendigkeit, die sozialen, politischen und epistemischen Folgen des europäischen Kolonialismus zu thematisieren, für gut und wichtig halten. Nicht alles, was Mignolo dabei an Thesen vertritt, traf und trifft aber auf unsere Zustimmung. Einige seiner Argumentationsweisen sind durchaus ambivalent (und in dieser Ambivalenz kritikwürdig): so etwa die Verabschiedung des Marxismus als dem „okzidentalen Denken“ zugehörig, bei gleichzeitig starkem positiven Bezug auf die antikolonialen Marxisten Carlos Mariátegui und Frantz Fanon; oder verschiedene Vereinfachungen und Vereinheitlichungen in der historischen Rückschau auf 500 Jahre koloniale Praktiken; oder eben ein Verständnis der Entstehung des Staates Israel, das mitunter antisemitische Züge trägt. Dieses taucht in „Epistemischer Ungehorsam“ nur in einer Fußnote und jenseits der sonstigen Argumentation auf.

Wir haben diesen einzigen Satz in dem von uns übersetzten Buch, bei dem man von einer antisemitischen Argumentationsweise sprechen kann, nicht verschwiegen, sondern kommentiert. Er steht in einer Fußnote (64) an einer Stelle, an der es eigentlich um die Entstehung der modernen Epistemologie geht. Darin schreibt Mignolo (S. 113):

Warum der Judaismus nicht anstelle des Christentums hegemonial wurde, ist eine andere Geschichte, die mit der Konsolidierung eines jüdischen Staates nach 1948 in Verbindung gebracht werden muss und der Rolle, die Jüd_innen in Komplizenschaft mit der aktuellen Machstruktur einnehmen (z.B. in Russland ebenso wie in den USA; vgl. Amy Chua: The World in Fire. How Exporting Free Market Democracy Breeds Ethnic Hatred and Global Instability. New York: Double Day 2003).“

Darauf haben wir in unserer Einleitung (Fußnote 25, S. 26) wie folgt reagiert:

Diese zuweilen mangelnde Detailliertheit findet auch Ausdruck in mancher beiläufigen Bemerkung, die die Argumentation eher schwächt als veranschaulicht. Etwa [...] wenn Mignolo in seiner Auseinandersetzung mit den verschiedenen Konzepten der Moderne en passant feststellt, es habe mit der Geschichte der „Konsolidierung des jüdischen Staates“ (1948!) zu tun, dass das Christentum und nicht das Judentum in der Moderne hegemonial geworden sei. Erstaunlicherweise macht Mignolo in derselben Fußnote – in der es um die Philosophie der Aufklärung geht – die „Rolle, die Jüd_innen in Komplizenschaft mit der aktuellen Machtstruktur einnehmen“ für diese konstatierte Hegemonie mitverantwortlich. Mignolo thematisiert im vorliegenden Buch wiederholt die Rolle von Jüdinnen und Juden als innerhalb Europas und im Inneren des europäischen Denkens Unterdrückte und Ausgegrenzte, doch an dieser Stelle bleibt er verständnislos gegenüber dem Holocaust als Auslöser und Gründungsmotivation des Staates Israel. Die Andeutung einer „Komplizenschaft“ von Jüdinnen und Juden mit der „aktuellen Machtstruktur“ bedient vor allem anderen antisemitische Klischees.“

Der Text „Dispensable and Bare Lives. Coloniality and the Hidden Political/Economic Agenda of Modernity“ (2009) ist in „Epistemischer Ungehorsam“, wie bereits erwähnt, nicht enthalten. Da Eduard Freudmann in seinem „offenen Brief“ der eigenen Selbstdarstellung mehr Platz einräumt als den Inhalten, wollen wir die Auseinandersetzung mit dem von ihm genannten Text hier nachholen. Denn so selbstverständlich berechtigt, wie von Freudmann unterstellt, sind die Vorwürfe auch angesichts dieses Aufsatzes keineswegs.

In „Epistemischer Ungehorsam“ beschreibt Mignolo selbst das Aufkommen des Antisemitismus im Kontext einer inneren Kolonialisierung Europas, der herrschaftlichen Durchsetzung bestimmter Lebens- und Denkweisen gegenüber anderen. Jüdinnen und Juden werden dabei als Ausgegrenzte und Unterdrückte benannt, deren Exklusion, so Mignolo, zum Teil die Unterdrückung der Kolonisierten auf anderen Kontinenten vorwegnahm. Ähnliche Argumente finden sich in Mignolos Text „Dispensable and Bare Lives“ (http://scholarworks.umb.edu/humanarchitecture/vol7/iss2/7/). Dieser Text handelt von der Ablösung des Christentums als zentrale Formation rassisierter Ausgrenzung durch die Entstehung des Kapitalismus. Mignolo schreibt darin u.a. in Anlehnung an Aimé Cesaire – und in Übereinstimmung mit anderen AntikolonialistInnen wie Frantz Fanon –, dass der Holocaust sich nicht allein aus der inner-europäischen Geschichte heraus erklären lasse, sondern im Kontext des von europäischen Kolonialismus zu begreifen sei:

Not only that it cannot be explained through the history of Europe but [...], on the contrary, the Holocaust ‘reflected’ on Europe itself what European merchants, monarchs, philosophers and officers of State did in the colonies.“ (S. 77)

Die Shoah als „Widerspiegelung“ des Kolonialismus zu begreifen, wird der Eigenlogik des europäischen und insbesondere des deutschen Antisemitismus sicherlich nicht gerecht – das steht unseres Erachtens außer Frage. Mignolo beabsichtigt hier aber nicht, den Antisemitismus dem Kolonialismus als „weniger schlimm“ unterzuordnen. Vielmehr geht es ihm darum, verschiedene Herrschaftsverhältnisse und Unterdrückungsformen aufeinander zu beziehen.

My understanding of anti-Semitism and the Holocaust comes from my understanding of the racial matrix of the modern/colonial world. More specifically, it comes from my understanding of dispensable lives in a capitalist market-driven economy [...], coupled with the legal/political dispensability brought about by the formation of the modern nation-state in Europe. The first is the case of enslaved Africans, the second of the murdered Jews in the Holocaust.“ (S. 74)

Bis hierhin schreibt Mignolo durchaus in der Argumentationslinie von Autoren wie Hannah Arendt, Giorgio Agamben und Zygmunt Bauman, die den Antisemitismus im Kontext der entstehenden Moderne zu begreifen versucht haben und die dabei ebenfalls die Begriffe des „überflüssigen“ und/oder „nackten“ Lebens verwenden. Am Ende des Textes allerdings weicht Mignolo von den Argumentationen dieser AutorInnen ab. Hier spielt die Shoah plötzlich keine Rolle mehr, wenn Mignolo zustimmend Mark Ellis zitiert, der behauptet, „(t)he major consequence of the complicity between secual Jews and Euro-American economic and political practice ended up in the construction of the State of Israel [...]“ (S. 87) – eine deutlich antisemitische Argumentationsweise, da die Bedeutung der Shoah für die Gründung des Staates Israel völlig verkannt und verschwörungstheoretische Ostküstenphantasien bedient werden. Diese Argumentationsweise zieht sich unseres Erachtens allerdings keineswegs durch den gesamten Text und steht sogar im Widerspruch zu anderen darin vertretenen Thesen. Man kann und muss, meinen wir, solche Argumente kritisieren und angreifen, und kann dennoch andere Aspekte in einem solchen Text aufgreifen und diskutieren.

Karl Marx schreibt in „Zur Judenfrage“ (1843): 

„Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus des Judentums? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld. Nun wohl! Die Emanzipation vom Schacher und vom Geld, also vom praktischen, realen Judentum wäre die Selbstemanzipation unsrer Zeit. […] Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum.“ (In: Marx-Engels-Werke, Band 1, S. 353, 372.) 

Das sind eindeutig antisemitische Klischees, die hier, wenn auch zunächst deskriptiv gemeint, bedient werden. Ist es deshalb bei jedem Bezug auf Marx notwendig, den Antisemitismus dieser Stelle zu erwähnen? Ist deshalb jeder Bezug auf Marx unmöglich, weil es diese Stelle gibt? Wohl kaum.

Es besteht ein entscheidender Unterschied zwischen einer falschen Begründung für die Entstehung der Shoah und/oder für die Entstehung des Staates Israels – zumal sie bei Mignolo im Kontext einer Parteinahme für Jüdinnen und Juden gegeben werden – und dem Hass auf Jüdinnen und Juden und/oder der Leugnung der Shoah. Solche Unterschiede, die unseres Erachtens auch im Umgang mit AutorInnen gemacht werden sollten, werden von Eduard Freudmann mit der Rede von „Theorieproduktion von Antisemit_innen“ in Bezug auf Mignolo eingeebnet.
Eine Kritik, die für sich beansprucht, Antisemitismus in der post- und dekolonialen Debatte offenzulegen und anzugreifen, muss sich aber, statt pauschal zu denunzieren, schon die Mühe machen, solche Differenzen wahrzunehmen und zu thematisieren.

Ambivalenzen zu erkennen und zu diskutieren und Differenzen zu benennen, ist unseres Erachtens sehr weit davon entfernt, sich in die Geschichte des „Bagatellisierens oder Ignorierens von Antisemitismus“ (Freudmann) einzufügen. Mit der rhetorischen Frage, ob wir bedacht hätten, an welche „lokalen Konzepte und Figuren“ wir mit „der Politik des aktiven Verschweigens und Verharmlosens“ anknüpfen würden, entgleitet Freudmann die Differenzierungsfähigkeit und damit das historische und politische Maß vollkommen.
So wie wir betonen, uns nicht an Politiken „des aktiven Verschweigens und Verharmlosens“ beteiligt zu haben, so weisen wir auch die mit dieser Frage transportierte, infame Unterstellung vehement zurück, wir würden uns den geschichts- und erinnerungspolitischen Praktiken der so genannten Freiheitlichen und anderer RechtsextremistInnen in Österreich und Deutschland in irgendeiner Weise annähern!

Nachdem Walter D. Mignolo im Oktober 2010 zu drei Vorträgen in Wien war (an der Akademie der bildenden Künste, im Kreisky Forum und an der Akademie der Wissenschaften), und bei keiner dieser Veranstaltungen auch nur die leiseste Kritik in Richtung Antisemitismus ihm gegenüber formuliert wurde, möchten wir schließlich zumindest noch unsere Verwunderung über die Heftigkeit der Vorwürfe an uns zum Ausdruck bringen.

Mit der ersten Übersetzung eines Buches Walter D. Mignolos ins Deutsche ist jedenfalls nun einer breiten deutschsprachigen LeserInnenschaft die Möglichkeit gegeben, die Vorwürfe im Einzelnen selber zu prüfen. Eine Debatte um antisemitische Argumente innerhalb post- und dekolonialer Ansätze können wir nur begrüßen, um schließlich – selbstverständlich – Antisemitismus zu bekämpfen. Allerdings braucht es dazu Argumente und nicht selbstdarstellerisches Profilierungsgehabe.


Jens Kastner und Tom Waibel
Wien im April 2012

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